Ursprung des Tonalpohuallis

Obwohl man noch nicht sagen kann, wann und in welcher Region Anahuacs das Tonalpohualli geschaffen wurde und warum die Zahl 260 für die Zählung der Tage genommen worden ist, gibt es gewisse Faktoren, die uns zeigen, wo wir die Antwort auf diese Fragen finden können.

Es sind einige Theorien aufgestellt worden, um zu erklären, warum die Zahl 260 als Grundlage der Tageszählung benützt wurde:

Zum Beispiel:

a) Der Zenitdurchgang der Sonne über den Breitengrad 15° Norden, wo sich die archäologischen Stätte Izapa, Paso de la Amada und Copán befinden, weil es eine Zeitspanne von 260 Tagen gibt zwischen dem zweiten (13. August) und dem ersten Zenitdurchgang der Sonne des nächsten Jahres (30. April).

b) Die Durchschnittsintervalle zwischen 2 Sonnenfinsternissen, weil 3 davon (173,3 x 3 = 519,9) zwei Tonalpohuallis entsprechen (250 x 2 = 520).

c) Die Zeitspanne zwischen der ersten Erscheinung von Venus als "Abendstern" und dessen ersten Erscheinung als "Morgenstern" (durchschnittlich 263 Tage).

d) Der synodische Zyklus von Mars, der 3 Tonalpohuallis entspricht (780 Tage).

e) Die durchschnittliche Periode der Schwangerschaft (ca. 9 Monate).

f) Eine Kombination der oben erwähnten Faktoren.


"IZAPA / PASO DE LA AMADA" ALS BEOBACHTUNGSORT

In der Zeit, als die ersten Beobachtungen der Sonnenzyklen gemacht und die Tagen gezählt wurden, nahm man als Referenz den Punkt wo der Betrachter sich befand. Aus diesem Grund muss es möglicherweise viele verschiedene Tageszählungssysteme gegeben haben, je nachdem, wo sich der entsprechende Beobachter befand.

Wir wissen, dass Izapa und vor allem Paso de la Amada bereits Anfang der sog. "Vor-Klassischen Periode" sich kulturell entfalten konnten. Als Beispiel: Das bis jetzt älteste ausgegrabene Ballspiel wurde eben in Paso de la Amada gefunden und ist der Zeitspanne 1400 - 1250 v. Ch. zuzuschreiben. Diese kulturelle Entwicklung geschah übrigens in einer Periode, in der dieses Gebiet noch nicht von Maya-Sprechende sondern von Mixe-Zoque-Sprechende Leute bewohnt war (siehe diesbezüglich "Historia Antigua de México", Linda Manzanilla, Vol. I, S. 447 - 453, INAH, 2000). Man darf nicht vergessen, dass das erste olmekische Zeremonie-Zentrum, La Venta, von einer Mixe-Zoque sprechenden Bevölkerung bewohnt war, möglicherweise zusammen mit Leute, die ein Uinic Maya-Dialekt sprachen (siehe "Historia Antigua de México", Linda Manzanilla, Vol. I, S. 67- 72, INAH, 2000). In diesem Sinne können wir die Kultur von Paso de la Amada, die vor der Zeit von La Venta entstand, als "Proto-Olmekisch" bezeichnen.

Da die Bewohner von Paso de la Amada so wichtige kulturellen Elemente entwickeln hatten, ist es naheliegend, dass sie auch die Bewegungen der Himmelskörper beobachten und dann ein damit verbundenes System zur Tageszählung festgelegt hatten. Ein offensichtlicher Referenzpunkt ist der Durchgang der Sonne durch den Zenit des Beobachtungsortes. Aufgrund seiner geographischen Lage (ca. 15° Norden) beträgt der Abstand zwischen den zwei jährlichen Zenitdurchgänge der Sonne in Paso de la Amada 105 bzw. 260 Tage (heutzutage 30. April und 13. August).

Wie bereits vorher erwähnt, es ist sehr wahrscheinlich, dass viele verschiedene Systeme zur Tageszählung in einer frühen Epoche gegeben haben muss. Die überregionale Konsolidierung des Tonalpohuallis in einem System von 260 Tagen wäre dann gekommen, als dessen Übereinstimmung mit den Zyklen von Venus entdeckt wurde.

Die Tatsache, dass dieses 260-Tage System imstande war, die Venus-Bewegungen zu beschreiben bzw. vorherzusagen, muss der Grund gewesen sein warum das Tonalpohualli von anderen Kulturen übernommen wurde. Diese Tageszählung hörte auf,  regional zu sein. Sie wurde zu einem "universellen System". Es hat keine Rolle mehr gespielt, dass dieses System auf dem 15° Norden festgelegt worden war. Wichtig war seine Fähigkeit, die Zyklen von Venus beschreiben zu können.

VEREINBARKEIT MIT DEN ZYKLEN VON VENUS

Die Vereinbarkeit des Tonalpohuallis mit den Zyklen von Venus kann wie folgt beschrieben werden:

Wenn wir einen x-beliebigen Tag des Tonalpohuallis als Ausgangspunkt nehmen, stellen wir fest, dass dieser Tag erst nach 52 Jahren wieder dem gleichen Tag des Sonnenjahres entspricht. Zum Besipiel, der Tag 4 Mazatl ("4 Hirsch"), entsprechend dem 7. Juni 2005, wird einem 7. Juni wieder erst im Jahre 2057 entsprechen. Diese 52 jährige Periode hiess auf Nahuatl "Nexiuhilpiliztli" (Jahresbündel). Nach weiteren 52 Jahren (also nach insgesamt 104 Jahren) entsprach der Tag des Tonalpohuallis nicht nur dem Tag des Sonnenjahres, sondern auch der Himmelslage von Venus.

Das heisst: Der 7. Juni 2005 war ein Tag 4 Mazatl ("4 Hirsch") und Venus befand sich an einer bestimmten Position. Der 7. Juni 2057 ist wieder ein Tag 4 Mazatl ("4 Hirsch"). Der 7. Juni 2109 (104 Jahre nach dem 07.06.2005) ist nicht nur wieder 4 Mazatl ("4 Hirsch"), sondern Venus befindet sich wieder in der gleichen Position wie am 7. Juni 2005.

Diese 104-Jahr Periode hiess auf Nahuatl "Huehuetiliztli" (Alter, Bejahrtheit) und war das "Jahrhundert" im Kalender-System von Anahuac.

Erinnern wir uns daran, dass 8 Erdenjahre astronomisch 5 Venusjahre entsprechen (das heisst, dass 104 Sonnenjahre auf der Erde, 65 synodische Venuszyklen umfassen). Wenn wir 8 mal 13 multiplizieren (13 ist die höchste Zahl, die sowohl für die Jahres- als auch für die Tageszählung verwendet wird) bekommen wir die Zahl 104, die dem Jahreszyklus entspricht, in dem der Tag des Tonalpohuallis wieder mit dem gleichen Sonnentag und auch mit der gleichen Lage von Venus im Himmel wie am Ausgangspunkt der Berechnung übereinstimmt.

JAHRESANFANG IN DER ZEIT, ALS DAS TONALPOHUALLI GESCHAFFEN WURDE

Zum Schluss noch eine Frage:

Wann begann das Jahr in der Zeit, als das Tonalpohualli geschaffen wurde ?

Nachdem wir festgelegt haben, dass das Tonalpohualli an einem Ort um den 15° Norden hat geschaffen werden müssen (wahrscheinlich in "Paso de la Amada"), ist es naheliegend, dass das Jahr an dem Tag begann, wo der zweite Sonnendurchgang über den Zenit dieses Ortes stattfand (heutzutage am 13. August bzw. 2. August julianisch anfangs des 16. Jahrhunderts = Sonnendeklination 15° Norden, wenn die Sonne sich sudwärts bewegt, Richtung herbstliche Tagundnachtgleiche) , denn das war die Grundlage, um die Zählung von 260 Tagen zu starten, die benötigt waren, damit die Sonne noch einmal den Zenit dieses Ortes durchging (heutzutage 30. April, bzw. 19 April julianisch anfangs des 16. Jahrhunderts, Sonnendeklination 15° Norden, wenn die Sonne sich nordwärts bewegt, Richtung  sommerliche Sonnenwende).

Somit können wir festhalten, dass das Jahr in jener fernen Zeit, als das Tonalpohualli begann gebraucht zu werden, an dem Tag begann, wo die Sonne sich am 15° Norden befand und sich Richtung herbstliche Tagundnachtgleiche bewegte (heutzutage 13. August, 2. August julianisch anfangs des 16. Jahrhunderts).

Nun: An welchem Tag des Tonalpohuallis begann das Jahr in jener Zeit ?

Wenn wir uns an dem erinnern, was wir im Kapitel "Kalenderkorrektur von Xochicalco" festgehalten haben, das sogenannte "altes System" begann am 24. Februar des heutigen gregorianischen Kalenders (13. Februar julianisch anfangs des 16. Jahrhunderts, Sonnendeklination 09°39' Süden) und der Tag, an dem es anfing, fiel 52 Tage vor dem Jahresträgertag (z. B. Tag 1 Krokodil für Jahr 1 Schilfrohr).

Analysieren wir nochmals das Jahr 1 Schilforhr, das im "alten System" an einem Tag 1 Krokodil = 24. Februar gregorianisch (13. Februar julianisch anfangs des 16. Jahrhunderts, Sonnendeklination 09°39' Süden) begann. In diesem Jahr, der 13. August des heutigen gregorianischen Kalenders (2. August julianisch anfangs des 16. Jahrhunderts, Sonnendeklination 15° Norden) entsprach dem Tag 1 Hund (170 Tage nach 1 Krokodil).

Da im "alten System" der Jahresträger 52 Tage nach Jahresanfang erschien, stellen wir fest, dass der Jahresträger 1 Wind sein muss, wenn der Jahresanfang der Tag 1 Hund ist. 1 Wind erscheint 52 Tage nach 1 Hund.

Damit stellen wir fest, dass das Kalendersystem, das in der Zeit der Schaffung des Tonalpohuallis gebraucht worden war (noch vor dem sogenannten "alten System"), die Zeichen Wind, Hirsch, Kraut und Bewegung als Jahreszeichen besass (und nicht Schilfrohr, Feuerstein, Haus, Kaninchen). Und somit begann ein Jahr 1 Wind an einem Tag 1 Hund, ein Jahr 1 Hirsch an einem Tag 1 Adler, ein Jahr 1 Kraut an einem Tag 1 Blume und ein Jahr 1 Bewegung an einem Tag 1 Schlange.

Wir nennen fortan dieses Kalendersystem "Ur-System", um es mit dem "alten System", das wir im vorigen Kapitel beschrieben haben, nicht zu verwechseln. Es ist zu erwähnen, dass die Jahres-Reihenfolge Wind-Hirsch-Kraut-Bewegung in zapotekischen Monumenten gefunden worden ist, sowie auch in Teotihuacan, wo das Zeichen "Reptilienauge" das Zeichen Wind ersetzte (siehe "El calendario mexica y la cronografía", Rafael Tena, INAH, 1987, s. 83).

Irgendwann, vielleicht im Laufe der sogenannten "klassischen Periode" oder am deren Ende, wurde ein Wechsel vollzogen, nämlich von der Reihenfolge Wind-Hirsch-Kraut-Bewegung auf Schilfrohr-Feuerstein-Haus-Kaninchen. Dieser war kein allgemeiner Wechsel, da gewisse Regionen das System Wind-Hirsch-Kraut-Bewegung weiterhin benützten, selbst in der Zeit nach der Ankunft der Spanier in der Frühkolonialzeit (vgl. z. B. die Codex "Azoyú I und II" aus dem Nahua-Mixteca-Tlapaneca Gebiet im Süden des heutigen Mexikos).

In Anbetracht dessen, was oben dargestellt wurde, können wir festhalten, dass der Jahresanfang im "alten" und im "neuen System", der dem 24. Februar des heutigen gregorianischen Kalenders entsprach (13. Februar julianisch im frühen 16. Jahrhundert), kein zufälliges Datum war. Um den Wechsel der Jahres-Reihenfolge Wind-Hirsch-Kraut-Bewegung auf Schilfrohr-Feuerstein-Haus-Kaninchen durchführen zu können, unter Berücksichtigung, dass der Jahresträger 52 Tage nach Jahresanfang erscheint, musste der Jahresanfang 170 Tage vorverschoben werden. Wenn das Jahr im "Ur-System" am 13. August des heutigen gregorianischen Kalenders begann (2. August julianisch im frühen 16. Jahrhundert, Sonnendeklination 15° Norden), dann musste das Jahr der neuen Reihenfolge gezwungenermassen am 24. Februar des heutigen gregorianischen Kalenders beginnen (13. Februar julianisch im frühen 16. Jahrhundert, Sonnendeklination 09°39' Süden).

In diesem Zusammenhang ist es interessant, folgendes zu erwähnen: Beim Wechsel vom "Ur-System" auf "altes System", merken wir, dass der Tag, wo der Jahresträger zum zweiten Mal im "alten System" erscheint (30. April gregorianisch heutzutage, 19 April julianisch im frühen 16. Jahrhundert, Sonnendeklination 15° Norden, wenn die Sonne sich Richtung sommerlichen Wende bewegt) sich 65 Tage entfernt vom 24. Februar des heutigen gregorianischen Kalenders (13. Februar im frühen 16. Jahrhundert) befindet. Im Beispiel des vorherigen Abschnittes, der Tag 1 Krokodil befindet sich 65 Tage vom Tag 13 Schlange entfernt (13 Bewegung im "Ur-System" begann an einem Tag 13 Schlange und dieser Tag erscheint, gemäss dem was wir vorher erklärt haben, am 13. August und 30. April des heutigen gregorianischen Kalenders). Zwischen dem 24. Februar und dem 30. April gibt es 65 Tage. Das heisst, das Viertel eines Tonalpohuallis (4 x  65 = 260). Erinnern wir uns auch daran, dass das Jahrhundert von Anahuac 104 Tage umfasste und 65 synodische Venus-Zyklen entsprach, was die Bedeutung der Zahl 65 unterstreicht. Möglicherweise stellten diese Faktoren auch Kriterien dar, als der Wechsel der Jahresreihenfolge vorgenommen wurde. Wenn nicht als Hauptfaktoren, zumindest als Aspekte, die die Harmonie zwischen beiden Systemen bestätigten und, die nützlich waren, um den Wechsel vom "Ur-System" zum "alten System" zu rechtfertigen.

Die letzte Frage zu beantworten ist:

Warum hat man vom "Ur-System" zum "alten System" gewechselt ?

Diese Frage lässt sich nicht einfach und abschliessend beantworten. Wir können lediglich Hypothesen aufstellen und dann überprüfen, ob sie zu verwerfen oder zu bestätigen sind.

Eine mögliche Hypothese wäre die Tatsache, dass der Jahresträger in der Zeit fällt, wo man damit anfing auf den Regen zu warten, wenn man das Jahr gemäss "alten System" beginnen lässt. Erinnern wir uns daran, dass wir im letzten Kapitel herausfanden, dass der Jahresträger im "alten System" am 15. April des heutigen gregorianischen Kalenders erschien (4. April julianisch im frühen 16. Jahrhundert). Dieses Datum befindet sich in einer Zeit, an der man bereits auf den Regen wartete. In der Mixteka (im heutigen Bundesstaat Oaxaca), der 3. Mai (Tag des heiligen Kreuzes) ist ein sehr wichtiges Datum und die Feier stehen in Zusammenhang mit der Erwartung des Regens. Ist das etwa der Grund warum das heilige Datum der Mixteka, das z. B. im Codex Yuta Tnoho ("Vindobonensis anverso", S. 47 und 45) abgebildet ist, das Jahr mit dem Jahresträger ist (Tag 7 Schilfrohr, Jahr 7 Schilfrohr), als ob man mit diesem heiligen Datum die Wichtigkeit der Ankunft des Regens unterstreichen wollte ?

Das ist nur eine Hypothese, die diskutiert werden müsste; sie sollte auch mit archeologischen und ethnografischen Elementen verglichen und bestätigt oder verworfen werden.

Nun können wir folgende Schlussfolgerungen festhalten:

a) Die Zahl 260, die die Anzahl Tage eines Tonalpohuallis beinhaltet, muss ursprünglich an einem Beobachtungsort um ca. 15° nördliches Breitengrades festgelegt worden sein. Möglicherweise am archeologischen Ort, den wir heutzutage "Paso de la Amada" (Chiapas, Mexiko) nennen.

b) Das 260-Tage System muss von "regionaler Tageszählung" zur "universalen Tageszählung" übergegangen sein, als man dessen Vereinbarkeit mit den Venuszyklen feststellte.

c) Ursprünglich begann das Tonalpohualli am 2. Sonnendurchgang über den Zenit des 15° Norden (13 August gregorianisch heutzutage, 2. August im frühen 16. Jahrhundert) und die Reihenfolge der Jahre war: Wind-Hirsch-Kraut-Bewegung.


BEILAGE / PYRAMIDE VON STA. CECILIA ACATITLAN (TLALNEPANTLA, MEX.)



Die Pyramiden wurden nicht nur dazu benützt, um rituelle Feier in einem religiösen Zusammenhang abzuhalten. Sie waren auch ausgezeichnete Beobachtungsorte, die erlaubten, die Bewegung der Himmelskörper zu folgen und festzuhalten, vor allem die der Sonne. Mit der Orientierung der Pyramiden nach Westen war es möglich, die Sonnenuntergänge genau zu beobachten und sie mittels fixen Referenzpunkten einzuordnen (siehe dazu "Historia Antigua de México", Linda Manzanilla, Vol IV, S. 273-306, INAH, 2001).